Porträt | Valentina Müller-Hinteregger

Wer bin ich, wenn ich nicht meine Arbeit bin?

Mit dieser Frage konfrontiert Valentina Müller-Hinteregger Führungskräfte. Sie ist selbstständige Entscheidungs- und Leadership-Coach, Mutter, Partnerin und Familienmensch. Sie bringt all diese Rollen unter einen Hut und hilft Führungskräften dabei, ihre Prioritäten und Balance zu finden.

Eine Führungskraft sollte heute im besten Fall alles können: MitarbeiterInnen führen, zuhören, sich mit Zahlen auskennen, Ziele und Visionen im Fokus halten, die Performance des Teams sichern, das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter steigern, achtsame Kommunikation beherrschen, Konflikte lösen, Prozesse einführen, innovativ sein usw. “Die Führungskraft wird oft als Retterin angesehen, die alle Probleme eines Teams lösen kann”, sagt Müller-Hinteregger. Viele Anforderungen, die nur schwer von einer Person erfüllt werden können. Und da sind ja auch noch der Partner, die Familie, Freunde, Hobbies und oft zu guter Letzt: die eigene Person. Ein unmöglicher Spagat?

Valentina Müller-Hinteregger (35) arbeitet als Entscheidungs- und Leadership-Coach mit Führungskräften und unterstützt sie dabei, Klarheit und Balance in diese unterschiedlichen Lebensbereiche zu bekommen. Sie selbst ist Mutter zweier Kinder und lebt mit ihrer Familie in Mödling bei Wien. Ihr Sohn ist drei Jahre, ihre Tochter elf Monate alt. Sie kennt die Zerrissenheit bei der Gewichtung zwischen dem Arbeitsalltag und dem Privatleben aus ihrer eigenen Vergangenheit. “Auch ich war ein Arbeitstier”, sagt sie von sich selbst. In ihren ersten Jobs nach dem Wirtschafts-Studium in der Unternehmensberatung waren lange Arbeitstage eher der Standard als die Ausnahme. Bis 21 Uhr im Büro sitzen? Keine Seltenheit. Erst spät merkte sie, wie sich langsam ihr Privatleben verabschiedete. Es war ihr damals aber auch nicht so wichtig. Dann aber kam das Umdenken.

Alex, ihre Mentorin, sollte ihr Leben verändern. Sie lernte sie bei ihrem zweiten Arbeitgeber in der Unternehmensberatung kennen. “Ein bunter Vogel, eine Hammer-Frau, jeder in der Firma kannte sie”, beschreibt sie Müller-Hinteregger. Alex sah sie. Sie förderte sie. Sie war der perfekte Match für die junge, arbeitsgierige Müller-Hinteregger. Das Vertrauen in sie war so groß, dass sie kurzerhand von der Mentorin nach Brasilien geschickt wurde, um ein Management-Team zu betreuen, als ihr Chef im Urlaub war. Ihre Mentorin tat alles für andere. Tat alles für die Firma. Sie schlief wenig. Sie rauchte viel. Sie betrieb Raubbau an ihrem Körper. Sie starb mit nur 37 Jahren an Lungenkrebs.

 

Was wirklich zählt

Das gibt Müller-Hinteregger zu denken. Sie beginnt sich intensiv mit sich selbst zu beschäftigen. Mit ihren eigenen Bedürfnissen und Themen. Sie hinterfragt alles. Mit Hilfe eines Coaches und in Retreats verarbeitete sie diesen Schicksalsschlag. Sie will ihr Leben anders gestalten und beginnt sich mit neuen Arbeitsweisen auseinander zu setzen, wo es mehr um Freude, Stärken und Potential geht anstatt des dauernden Vollgases. Sie will das, was sie durch ihre Mentorin erkannt hat weitertragen. Was dir wichtig ist, das mach jetzt und mach die Sachen so, dass du das auch durchhältst. Nicht im Raubbau deines Körpers. Außerdem will sie in Zukunft Menschen berühren, aber nicht so, dass sie selbst dabei draufgeht, nimmt sie sich vor. Das erfüllt sie mit neuem Sinn. Alex ist immer noch ihre Mentorin, sagt Müller-Hinteregger.

Valentina Müller-Hinteregger will diese Erkenntnisse auf ihre Art und Weise weitergeben. Sie geht in die Selbständigkeit. Zum einen gründet sie mit ihrem Kollegen Maik Puk das Unternehmen 99rabbits, wo sie New Work Arbeitsweisen in Teams trägt. Zum anderen macht sie sich als Entscheidungscoach selbständig. Sie will Leaderinnen und Leader unterstützen. Sie will helfen, wenn diese das Gefühl haben, dass sich ihr Beruf negativ auf ihr Leben, ihre Familie oder ihr Selbst auswirkt. Dass diese nicht die Fehler ihrer Mentorin machen. Sie unterstützt sie dabei, Ihr Leben so zu gestalten, dass eine gesunde Balance ihrer Bedürfnisse entsteht. Und sie hilft dabei herauszufinden, was ihnen in ihrem Leben wirklich wichtig ist. Viele Führungskräfte spüren in sich, dass sie nicht nach ihren eigenen Prioritäten leben. Es gilt, sich neu zu sortieren, zu hinterfragen: “Wer bin ich, wenn ich nicht meine Arbeit bin?” Die Identifikation mit der Arbeit ist oft sehr hoch. Im Einzelcoaching versucht sie, die Prioritäten, Werte und Visionen der Menschen herauszuarbeiten. Es geht bei dieser Arbeit viel ums Spüren. Um das Klären, was man wirklich will und was man glaubt zu wollen, weil die anderen das von einem erwarten. Sie macht Aufstellungsarbeiten. Sie liebt die Arbeit mit ihren KundInnen von Herz zu Herz. Sie liebt den Tiefgang. Sie arbeitet mit Vision Boards und Visualisierungen der Zukunft. In dem Moment, wo die Führungskräfte merken und sehen, wie sie ihr Leben haben möchten, können sie auch Schritte in die gewünschte Richtung setzen.

“Vor allem Männer in Führungspositionen hätten gerne mehr Zeit für Partnerschaft, Kinder und Familie und für sich selbst”, sagt Müller-Hinteregger. Partnerschaften kriseln, weil sie nur noch die Arbeit sehen. Trotzdem glauben sie, dass ihnen ein erfülltes Privatleben nicht zusteht. “Männer müssen Opfer bringen und das Geld verdienen”. Dieses Denken ist in vielen Mindsets von Führungskräften nach wie vor stark verankert. Im Gegensatz dazu hält sich bei Frauen oft noch der Glaubenssatz: “Ich muss das Opfer bringen und mehr daheim sein bei den Kindern”. Dabei hilft es manchmal schon, die Prioritäten hier nur ein bisschen zu verschieben, ohne dass sie komplett über den Haufen geworfen werden. Männer dürfen sich mehr Zeit für die Liebsten oder sich selbst zugestehen, Frauen mehr berufliche Entfaltung und diese dann auch einfordern.

Was ist aber, wenn die Erkenntnis des Coachings ist: “Ich will die Welt verändern”? “Auch das ist okay”, sagt Müller-Hinteregger. “Ganz urteilsfrei. Dann folgt daraus, dass die Familie zurückstecken muss. Dann kann sich die Führungskraft aber von ihren Schuldgefühlen lösen, die oft damit einhergehen.” Es geht immer noch um den Menschen hinter der Rolle. Um dessen Bedürfnisse. Um die Frage, wie ein entspanntes Arbeiten in Freude für diesen konkreten Menschen individuell möglich ist.

 

“Ich lebe das Leben, das ich nie haben wollte”

Valentina Müller-Hinteregger konnte sich lange nicht vorstellen, Mutter zu sein. Für sie stand die Karriere im Vordergrund. “Wenn ich eine Familie gründe, ist meine Karriere vorbei, alle meine Ausbildungen für ‘n Hugo”. So war ihr Mindset. “Ich wollte NIEMALS Wirtschaft studieren. Ich wollte NUR NICHT in der HR landen. Ich wollte AUF KEINEN FALL heiraten. Ich wollte NIE selbstständig arbeiten. Ich wollte KEINE Mutter werden.” – das schreibt Müller-Hinteregger in einem ihrer Blogartikel auf LinkedIn. “Für alles hatte ich meine Gründe dagegen”. Heute hat sie alle diese Widerstände in das Gegenteil gekehrt und ist dankbar dafür. “Umso größer der Widerstand, umso größer das Geschenk dahinter”. Diesen Satz hat ihr einmal ein Coach mitgegeben und daran glaubt sie. Und das will sie auch ihren Kunden weitergeben. Genau in diesen Punkten hinzuschauen.

Erst mit der Zeit lernte sie bei sich selbst hinter diesen Widerstand zu blicken und sich den inneren Familienwunsch einzugestehen. Sie hat gemeinsam mit ihrem Partner Ulrik, der als Notarzt arbeitet, einen Weg gefunden, ihre Berufung zu leben und gleichzeitig auch ein erfülltes Familienleben zu haben. Für ihre Passion, die Arbeit mit Führungskräften, lebt und brennt sie nach wie vor. Es darf beides sein, berufliche Weiterentwicklung und Familie. Es schließt sich nicht aus. Sie nimmt ihre Tochter, die gerade mal elf Monate alt ist, mit zu ihren Coachings. Sie kämpfte lange mit sich, sich das zu erlauben. “Babys stören doch”. Das Gegenteil ist der Fall. Ihre Kunden zeigen sehr viel Verständnis dafür. Viele sind selbst Eltern. Sie kann sogar als Mensch dadurch viel mehr andocken, ist ihre Erfahrung. Eine 10-minütige Pause, um ihre Tochter zu stillen? Kein Problem – oft sogar eine willkommene Nachdenk- oder Integrationspause. Bei ihren Coachings im Ausland ist oft die ganze Familie mit dabei.

 

Weg vom Heldenstatus

Eine Führungskraft muss also nicht die Antwort auf alle Fragen und Probleme des Teams haben? Von Müller-Hinteregger kommt ein klares „Nein“. Jedes Unternehmen definiert die Rolle einer Führungskraft aber ein wenig anders, fügt sie noch hinzu. Ihrer Meinung nach soll eine Führungskraft mit komplexen Situationen gut umgehen können, klare Visionen haben und Zielstrebigkeit an den Tag legen. Ein Gefühl für Menschen und Teams sollte sie haben und sich selbst nicht zu wichtig nehmen. Weg vom Status des Helden, des Retters. Mehr gemeinsame Teamverantwortung. Eine Führungskraft ist nicht verantwortlich für das Wohlbefinden ihrer MitarbeiterInnen. Sie sollte nur nichts tun, dass es ihnen schlecht geht. Es arbeiten Erwachsene mit Erwachsenen. Eine Führungskraft sollte einen sicheren Raum schaffen. Einen Vertrauensraum, wo sich die Mitarbeiter aufgehoben fühlen, wo sie sich nicht als Nummer fühlen und wo sich das Team selbst organisieren kann. Konflikte lösen Teams selbst. Die Führungskraft soll den Rahmen festlegen. Und sie sollte sich Unterstützung holen, wenn sie welche benötigt, wenn sie außer Balance gerät. Wie jeder Mensch. Vielleicht ja in Form eines Coachings.

Die Zeiten, in denen die Führungskraft am Nachmittag noch schnell einen Homeoffice- oder einen Zeitausgleichtag genehmigt, sind vorbei; das sollte sich das Team selbst organisieren. Es ist außerdem auch gar nicht mehr möglich, da die Führungskraft längst zu Hause ist und mit den Kindern spielt.